Eine strategische Antwort auf die neue Weltunordnung.
Europa steht am Beginn einer neuen geopolitischen Epoche. Die bisherige Ordnung – geprägt von transatlantischer Stabilität, wirtschaftlicher Globalisierung und dem Primat des Völkerrechts – wird durch einen zunehmend koordinierten Block autoritärer Staaten in Frage gestellt. Russland, China, Iran und Nordkorea handeln längst nicht mehr einzeln, sondern abgestimmt, arbeitsteilig und strategisch. Die Vereinigten Staaten, traditionell Schutzmacht Europas, befinden sich in einem inneren Ringen, das ihr außenpolitisches Engagement unberechenbar macht. Für Europa – und insbesondere für Deutschland – ist dies der Moment, in dem wir lernen müssen, auf unsere eigene Stärke zu vertrauen.
Was ist die Antwort auf diese tektonische Verschiebung? Nicht Rückzug. Nicht Abschottung. Sondern eine handlungsfähige, verantwortungsbewusste Sicherheits- und Außenpolitik, die unsere offenen Gesellschaften schützt, ihre Werte verteidigt und unsere Interessen in der Welt glaubwürdig vertritt. Eine solche Politik verbindet Idealismus mit Realismus, Resilienz mit internationaler Vernetzung. Sie betrachtet Sicherheit nicht als Selbstzweck, sondern als Grundlage für Frieden, Wohlstand und Freiheit – für unsere Generation und die kommenden.
Europa muss verteidigen können – aus eigener Kraft
Erstens: Europa braucht eine neue Verteidigungskultur. Die Erhöhung des NATO-Ziels auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts markiert eine Zäsur – politisch wie mental. Für Deutschland bedeutet das nicht nur höhere Verteidigungsausgaben, sondern eine Neuausrichtung seiner strategischen Prioritäten. Diese Investitionen müssen zielgerichtet erfolgen: in europäische Luftverteidigungssysteme, in hochmobile Kräfte, in Drohnen- und Satellitenabwehr sowie in ein robustes Lagebild über alle Domänen hinweg – Land, Luft, See, Cyber und Space. Besonders Weltraumfähigkeiten – etwa zur Aufklärung und Kommunikation – müssen als Schlüsselkomponente moderner Verteidigung erkannt und europäisch koordiniert aufgebaut werden.
Cybersicherheit ist längst kein Randthema mehr, sondern ein zentrales Schlachtfeld geopolitischer Auseinandersetzungen. Deutschland und Europa müssen ihre Cyberabwehrfähigkeiten erheblich ausbauen – sowohl auf staatlicher als auch auf ziviler Ebene. Das umfasst ein europäisches Cyberabwehrkommando, gemeinsame Standards für kritische Infrastruktur und eine strategische Reserve an digitalen Verteidigungsressourcen. Wer den Schutz seiner digitalen Souveränität ernst nimmt, muss auch bereit sein, im Notfall aktiv zu verteidigen – notfalls mit offensiven Mitteln im Rahmen internationaler Normen.
Europas Souveränität beginnt mit strategischer Unabhängigkeit
Zweitens: Europa muss seine Abhängigkeiten reduzieren und seine Fähigkeit zur eigenständigen geopolitischen Gestaltung stärken. Eine europäische Verteidigungsindustrie, die verlässlich liefert, innovativ ist und transnational kooperiert, gehört ebenso dazu wie eigenständiger Zugang zu Satellitennetzwerken, sicheren Kommunikationsmitteln und Rüstungsproduktion. Nationale Alleingänge behindern – was wir brauchen, ist eine funktionierende europäische Verteidigungsökonomie mit einheitlichen Standards, koordinierter Beschaffung und einer Priorisierung von Fähigkeiten statt Symbolpolitik.
Deutschland kommt dabei eine besondere Rolle zu: als Anker in Mitteleuropa, als wirtschaftliche Führungsmacht und als Brückenbauer zwischen Ost und West. Diese Verantwortung kann und darf nicht delegiert werden. Deutschlands Außenpolitik muss strategisch denken und europäisch handeln – nicht mit moralischem Zeigefinger, sondern mit klarer Zielrichtung: ein Europa, das sich selbst schützt und gleichzeitig global Verantwortung übernimmt.
Der Systemwettbewerb ist real – unsere Antworten müssen es auch sein
Drittens: Die Auseinandersetzung mit autoritären Regimen ist nicht nur militärischer Natur, sondern ein Wettstreit politischer Ordnungen. China bietet mit seinem staatskapitalistischen Modell eine technokratische Alternative zur offenen Gesellschaft. Russland setzt auf Desinformation, Stellvertreterkriege und wirtschaftliche Erpressung. Hier müssen wir präzise und entschieden gegenhalten – nicht mit Pathos, sondern mit System.
Konkret heißt das: Der Schutz unserer demokratischen Institutionen braucht eine dauerhafte Investition in politische Bildung, Medienkompetenz und digitale Aufklärung. Die öffentliche Debatte muss robust gegenüber Manipulationsversuchen werden – dafür braucht es ein europäisches Zentrum zur Analyse und Abwehr hybrider Bedrohungen, ähnlich dem NATO StratCom Centre of Excellence in Riga, aber stärker vernetzt mit Zivilgesellschaft und Wissenschaft.
Gleichzeitig muss die internationale Zusammenarbeit mit demokratischen Partnerstaaten deutlich intensiviert werden. Europa darf nicht bei sich selbst stehenbleiben – es muss aktiv neue Allianzen mit Demokratien im indo-pazifischen Raum, in Lateinamerika und in Afrika eingehen. Handels- und Technologiepartnerschaften mit Ländern wie Japan, Südkorea, Indien oder Brasilien sind nicht nur wirtschaftlich klug, sondern geopolitisch notwendig.
Eine Sicherheitsordnung der Freiheit
Was ist das verbindende Prinzip all dieser Maßnahmen? Es ist die Überzeugung, dass Sicherheit nicht im Widerspruch zu Freiheit steht, sondern ihre Voraussetzung ist. Wer offene Gesellschaften erhalten will, muss sie aktiv schützen – gegen äußere Bedrohung, gegen innere Erosion und gegen strategische Gleichgültigkeit. Diese Haltung ist weder aggressiv noch nostalgisch, sondern zukunftsgewandt. Sie strebt keine militärische Dominanz an, sondern Stabilität durch Fähigkeit, Verlässlichkeit und Abschreckung. Sie baut auf Zusammenarbeit, ohne erpressbar zu sein. Sie respektiert internationale Normen, ohne naiv zu sein gegenüber denen, die sie systematisch unterlaufen.
Deutschland und Europa müssen in dieser Welt ihren Platz behaupten – nicht als Zuschauer, sondern als Mitgestalter. Der Schlüssel liegt in klarem Denken, strategischer Entschlossenheit und dem Mut zur Verantwortung. Eine handlungsfähige Sicherheits- und Außenpolitik ist kein Widerspruch zu einem humanistischen Weltbild – sie ist dessen notwendige Voraussetzung.
Der Systemwettbewerb ist Realität. Die Antwort darauf darf nicht Passivität sein. Sondern Souveränität, Stärke und Partnerschaft. Ein Europa, das seine Freiheit liebt, muss bereit sein, sie zu verteidigen – und Deutschland muss bereit sein, dabei voranzugehen.