Ein Eklat, der tiefer reicht – Der gescheiterte Versuch, Richter zu wählen

Es war ein Vorgang, wie er in der Geschichte des Bundestages kaum je vorgekommen ist – und doch in beklemmender Weise zu unserem politischen Zeitalter passt. Die für diesen Freitag angesetzte Wahl neuer Richterinnen und Richter an das Bundesverfassungsgericht ist – mit wenigen Stunden Vorlauf – von der Tagesordnung genommen worden. Ein Offenbarungseid der politischen Klasse.

Denn was sich da in aller Öffentlichkeit abspielte, ist kein parteitaktisches Missverständnis, kein kleiner Formfehler im institutionellen Getriebe. Es ist Ausdruck einer tiefer liegenden Erosion – nicht nur parlamentarischer Handlungsfähigkeit, sondern politischer Kultur. Wer je daran gezweifelt hat, dass die Legitimitätskrise der Demokratie längst im Innersten angekommen ist, wird seit heute eines Schlechteren belehrt.

Die Institution verliert – und mit ihr das Vertrauen

Wenn das Parlament nicht mehr in der Lage ist, sich auf die Wahl der höchsten Richter zu verständigen – und dies auch noch in letzter Minute eingestehen muss –, dann beschädigt das nicht nur die Würde des Hauses. Es beschädigt vor allem das Vertrauen der Bürger in die Verfasstheit der Demokratie. Denn nichts ist sensibler als das Verfahren zur Besetzung jenes Gerichts, das in Deutschland gleichsam über der Politik steht – Hüterin des Grundgesetzes, Schiedsrichterin in den Fragen, die das Land zerreißen könnten.

Dass ausgerechnet dieser Akt der überparteilichen Einigung an innerkoalitionellen Ränken und internen Widerständen gescheitert ist, zeigt: Die Kräfte der Verantwortung sind schwach geworden. Die politische Klasse hat es verlernt, Verlässlichkeit zu organisieren. Und dort, wo früher das Bewusstsein für den Ernst einer solchen Entscheidung prägte, regieren heute kurzfristige Befindlichkeiten und parteitaktische Reflexe.

Kein Betriebsunfall – ein Symptom politischer Entleerung

Wohl niemand in der Unionsfraktion – und vermutlich auch kaum jemand in der SPD – konnte am heutigen Tag mit Sicherheit sagen, wie die Abstimmung ausgehen würde. Dass daraufhin der Versuch unterblieb, es überhaupt darauf ankommen zu lassen, spricht Bände. Es wäre die Blamage vor laufender Kamera gewesen – also entschied man sich für die peinliche Eleganz der Vermeidung. Dass sich Fraktionschefs nun gegenseitig beschuldigen, das Verfahren nicht im Griff gehabt zu haben, macht es nicht besser. Es offenbart das ganze Maß der Führungsarmut.

Dabei sind diese Fehler keine Einzelvorkommnisse, sondern Ausdruck einer tiefer liegenden Schwäche. Das politische Handwerk – die Kunst des Vermittelns, des Fraktionsmanagements, der verlässlichen Verständigung – ist vielerorts verkümmert. Der heutige Tag ist, so gesehen, kein Betriebsunfall – er ist Folge eines Systemversagens.

Der eigentliche Schaden: Wasser auf die Mühlen der Radikalen

Man darf sich als politisch denkender Mensch nichts vormachen: Dieser Vorfall wird seine Wirkung nicht verfehlen. Er stärkt nicht die parlamentarische Demokratie – er schwächt sie. Denn überall dort, wo Menschen ohnehin den Eindruck gewonnen haben, Politik sei ein in sich kreisender Apparat aus Intrigen und Machtspielchen, liefert dieser Freitag den scheinbaren Beweis. Die politische Mitte, ohnehin geschwächt, hat sich selbst einen Bärendienst erwiesen. Das Signal lautet: Selbst in Fragen höchster staatlicher Verantwortung ist auf das System kein Verlass mehr.

Als Freier Demokrat müsste ich mich, sehr parteitaktisch gedacht, vielleicht heute freuen. Die politischen Mitbewerber stehen desavouiert da, ihr Personal zerstritten, die Abläufe dysfunktional. Doch dieser Schaden ist nicht selektiv. Er betrifft uns alle. Wer glaubt, dass ein solcher Tag nur SPD und Union schadet, verkennt die Lage. Die Enttäuschung über ein dysfunktionales System nährt nicht die Opposition – sie nährt jene Kräfte, die die Institutionen ablehnen. Populisten, Extremisten, Verächter der Verfassung. Für sie ist dieser Tag ein Geschenk.

Verantwortungslosigkeit als Systemfehler

Es ist daher kein Skandal, weil sich eine Personalie als nicht mehrheitsfähig erwiesen hat – das kommt vor. Der Skandal besteht darin, dass es niemandem gelang, dies rechtzeitig zu erkennen oder zu lösen. Es ist die Verantwortungslosigkeit im Umgang mit der Verantwortung, die diesen Tag so folgenreich macht. Wer sich auf ein so sensibles Verfahren wie die Richterwahl einlässt, der muss vorher klären, ob es tragfähig ist. Dass dies misslang, kann man nicht der Kandidatin vorwerfen. Aber sehr wohl den Fraktionsspitzen, die offenbar nicht in der Lage waren, ihr politisches Feld zu bestellen.

Der Preis einer verlorenen politischen Kultur

Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack – und die dringende Frage: Wie konnte es so weit kommen? Es scheint, als sei die Bereitschaft, politische Verantwortung tatsächlich zu tragen, vielerorts dem Wunsch nach Inszenierung gewichen. Wo früher Respekt vor dem Amt dominierte, herrscht heute oft nur noch das Kalkül. Das politische Personal wird in Social Media geformt, nicht im Ausschuss. Und so ist es kein Wunder, dass Prozesse scheitern, die diskrete Vorbereitung und strategische Substanz erfordern.

Der heutige Tag ist somit ein Menetekel: Nicht nur für ein misslungenes Verfahren, sondern für eine politische Kultur, die aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wenn das Parlament wieder Vertrauen gewinnen will, dann muss es mehr bieten als Empörung und hektische Schadensbegrenzung. Es braucht Klarheit im Handeln, Ernsthaftigkeit im Ton und ein neues Verständnis davon, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Der Begriff „Staatsräson“ war nie als Phrase gedacht – er muss wieder gelebter Maßstab werden.

Was jetzt zu tun ist

Was folgt aus diesem Scheitern? Sicher nicht der reflexhafte Ruf nach mehr „Transparenz“. Als ließe sich politisches Führungsversagen durch Protokollanalyse oder Schuldzuweisungen heilen. Nein – was nun nötig ist, ist ein anderes Verständnis von Verantwortung: nicht als abwälzbares Prinzip, sondern als persönliche Verpflichtung zum Handeln.

Verantwortung kann man nicht delegieren – Verantwortung verpflichtet zum Tun. Wer politische Ämter innehat, muss führen, nicht moderieren. Es reicht nicht, Prozesse anzustoßen und sich bei deren Scheitern betroffen zu zeigen. Es braucht Verlässlichkeit, Klarheit, Mut zur Entscheidung. Nicht das gescheiterte Verfahren ist der Skandal – sondern das fehlende Bewusstsein für die Tragweite dieses Vorgangs.

Die Sommerpause ist deshalb keine Verschnaufpause. Sie ist eine Bewährungszeit für eine politische Klasse, die ihren Kompass neu justieren muss. Parteivorsitzende, Fraktionsführungen, Koalitionspartner, Abgeordnete – sie alle stehen nun in der Pflicht, die politischen Grundlagen wieder tragfähig zu machen. Wer regieren will, muss regierbar sein. Wer Vertrauen erwartet, muss vertrauenswürdig handeln.

Der heutige Eklat darf kein Betriebsunfall bleiben. Er muss ein Wendepunkt sein – zurück zu einer politischen Kultur, in der Verantwortung nicht behauptet, sondern getragen wird.

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Eine strategische Antwort auf die neue Weltunordnung.