Wehrpflicht? Nein – was wir brauchen, ist ein Gesellschaftsdienst für alle Generationen.
Kaum ein Thema entzweit die politische Debatte derzeit so sehr wie die Frage nach der Rückkehr zur Wehrpflicht. Die einen sehen darin einen Befreiungsschlag für eine Bundeswehr, die unter eklatantem Personalmangel leidet. Die anderen warnen vor einem übergriffigen Staat, der junge Menschen zur Pflicht ruft, während die Älteren sich aus der Verantwortung stehlen. Die Wahrheit liegt tiefer – und sie ist unbequemer: Die Diskussion um die Wehrpflicht ist der Versuch, ein strukturelles und gesellschaftliches Versagen der letzten Jahrzehnte auf die Schultern einer Generation zu wälzen, die mit diesem Versagen nichts zu tun hat.
Denn das eigentliche Problem ist nicht der fehlende Dienst junger Menschen – es ist das fehlende Selbstverständnis aller Generationen, dass Freiheit, Sicherheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt auf persönlichem Einsatz beruhen. Wir haben die Illusion kultiviert, man könne einen funktionsfähigen Staat outsourcen, als Dienstleistung einkaufen. Und wir haben es versäumt, rechtzeitig die Frage zu stellen, was jede und jeder Einzelne eigentlich bereit ist zu leisten für dieses Gemeinwesen, das uns so selbstverständlich erscheint.
In Wahrheit ist es die Generation der heute 40- bis 70-Jährigen, die über Jahrzehnte hinweg politisch Entscheidungen getroffen oder billigend hingenommen hat, die das sicherheitspolitische Desaster von heute mitverursacht haben. Eine Bundeswehr, die strukturell kaputtgespart wurde. Kasernen, die geschlossen, statt modernisiert wurden. Eine politische Führung, die sicherheitspolitische Realitäten leugnete – in der Hoffnung, Deutschland werde nie wieder gefordert sein, sich selbst zu verteidigen.
Und nun, da Putins Angriffskrieg auf die Ukraine brutal vor Augen führt, dass Frieden kein Naturgesetz ist, soll plötzlich die junge Generation einspringen. „Ihr müsst jetzt“, heißt es von denjenigen, die über Jahre nur „Wir können nicht“ sagten. Doch Verantwortung lässt sich nicht delegieren – jedenfalls nicht glaubwürdig. Wer heute erwartet, dass junge Menschen für das Land einstehen, muss morgen selbst bereit sein, das auch zu tun.
Ein weiteres Problem wird in der Debatte geflissentlich ignoriert: Selbst wenn wir die Wehrpflicht heute wieder einführen wollten – wir könnten sie gar nicht umsetzen. Die Bundeswehr hat schlicht weder die Kapazitäten noch die Infrastruktur, um jährlich mehrere hunderttausend junge Menschen auszubilden, unterzubringen und sinnvoll einzusetzen. Es fehlt an Ausbildern, an Liegenschaften, an Gerät – und, entscheidend, an einem gesellschaftlichen Mindset, das den Dienst für Staat und Gesellschaft wieder als etwas Positives begreift.
Denn das Problem der Dienstverweigerung beginnt nicht mit den jungen Menschen – es beginnt mit einem kollektiven Identitätsverlust. Wir erleben das nicht nur beim Bund, sondern auch in der freiwilligen Feuerwehr, im Technischen Hilfswerk, im Ehrenamt, in der Kommunalpolitik. Überall dort, wo Menschen Zeit, Energie und Herzblut in die Gemeinschaft einbringen sollen, fehlen ihnen Wertschätzung, Infrastruktur – und oft auch Mitstreiter.
Was wir deshalb brauchen, ist keine Wehrpflicht, sondern eine neue Dienstkultur – und zwar für alle.
Warum denken wir nicht neu: Einen generationenübergreifenden Gesellschaftsdienst – offen, freiwillig, vielfältig, anerkannt und attraktiv. Einen Dienst, der den militärischen Beitrag nicht ausklammert, aber ihn als eine Option unter vielen versteht. Der jungen Menschen die Möglichkeit gibt, sich in Bundeswehr, Katastrophenschutz, Pflege, Bildung, Umweltschutz oder Verwaltung zu engagieren – und der gleichzeitig auch ältere Generationen einlädt, mitzumachen, ihre Erfahrungen einzubringen und Verantwortung zu übernehmen.
Man stelle sich vor: Ein 20-jähriger Abiturient unterstützt ein Jahr lang Kinder mit Sprachförderung an einer Grundschule. Eine 19-Jährige entscheidet sich für einige Monate im Sanitätsdienst der Bundeswehr. Ein junger Auszubildender hilft beim Technischen Hilfswerk und erwirbt Fähigkeiten im Katastrophenschutz, die ihn sein Leben lang begleiten werden. Genauso gut kann eine 42-jährige Ingenieurin in einem Sabbatical ihre Expertise in den Zivilschutz einbringen und ein 35-jähriger IT-Spezialist Schulen bei der Digitalisierung helfen. Und warum sollten wir die Älteren außen vor lassen? Eine pensionierte Krankenschwester, die einmal pro Woche in einem Pflegeheim aushilft, ein ehemaliger Polizist, der junge Ehrenamtliche in Zivilschutzfragen schult, oder ein Verwaltungsbeamter, der Geflüchtete bei Behördengängen unterstützt – all das wäre Ausdruck derselben Kultur des Dienens.
Ein solcher Gesellschaftsdienst muss nicht verpflichtend sein, um wirksam zu sein. Was er braucht, ist politische Ernsthaftigkeit, solide finanzielle Ausstattung und vor allem gesellschaftliche Vorbilder: Menschen, die zeigen, dass Dienst am Gemeinwesen nicht altmodisch ist, sondern Ausdruck moderner Bürgertugend. Anerkennung in Form von Zertifikaten, die im Berufsleben zählen, steuerliche Anreize oder Rentenpunkte wären nur folgerichtige Schritte. Und vielleicht brauchen wir auch gesellschaftliche Plattformen und Auszeichnungen, die diejenigen sichtbar machen, die Verantwortung übernehmen.
Wir Liberalen glauben an die Kraft der Freiheit – aber Freiheit verpflichtet. Sie verpflichtet nicht nur zur Verantwortung für sich selbst, sondern auch zur Verantwortung für das Ganze. Diese Verantwortung beginnt nicht mit dem Zwang zur Uniform, sondern mit dem Willen, Teil von etwas Größerem zu sein.
Statt also eine Pflicht zu erzwingen, die weder strukturell tragfähig noch gesellschaftlich legitimiert ist, sollten wir eine Kultur ermöglichen, in der sich Dienst an Staat und Gesellschaft wieder lohnt – für alle Generationen, für alle Lebenslagen, für unsere Demokratie.